Stresstest für Krankenkassen: Wer besteht gegen Startups und Tech-Giganten?

PwC-Studie 2022: Szenarien und Handlungsoptionen für die GKV im Jahr 2030

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Thorsten Weber
Director, Leiter Beratung GKV bei PwC Deutschland
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Wie positioniert sich die GKV im digitalen Gesundheitssystem 2030?

Gesetzliche Krankenversicherungen befinden sich in einem stark wandelnden Umfeld. Im Zuge der Digitalisierung stehen sie nicht nur mit anderen Krankenkassen im Wettbewerb. Sondern auch mit Startups und bald möglicherweise auch mit Tech-Konzernen, die längst ein Auge auf den deutschen Gesundheitsmarkt geworfen haben. Trotz dieser herausfordernden Situation ist die Digitalisierung in einigen Krankenkassen immer noch kein Vorstandsthema. Dabei entscheidet sich jetzt, welche Rolle sie künftig in der Versorgung spielen, wie sie in digitale Ökosysteme eingebunden sind und welchen Zusatznutzen sie ihren Kunden entlang der „digitalen Patientenreise“ (Patient Journey) bieten. 

Die vorliegende Studie erhebt den Status quo der Digitalisierung in der GKV und skizziert mögliche Szenarien für das Jahr 2030. Daraus abgeleitet skizziert sie Handlungsoptionen in mehreren relevanten Feldern – von der Aufbau- und Ablauforganisation über die personelle und kulturelle Ebene bis hin zum Umgang mit Wettbewerbern, die von außerhalb des Gesundheitswesens in den Markt drängen.

Die Studie im Überblick

Erwarteter Wettbewerb von außen: Startups und Tech-Konzerne entdecken das Gesundheitswesen

Digitalisierung und Automatisierung machen auch vor den Geschäftsmodellen der gesetzlichen Krankenkassen nicht halt. Sie unterliegen einem Stresstest, der die klassische Rolle der Versicherungen als Erstattungs- und Prüfungsinstanzen herausfordert. Der Markt wird messbarer und transparenter. Neue Akteure wie Startups und Tech-Konzerne drängen in das entstehende digitale Gesundheitsökosystem. 42 % der im Rahmen der Studie Befragten befürchten, dass sie bald mit Tech-Konzernen wie Amazon und Apple konkurrieren. 30 % gehen davon aus, dass letztere potenziell auch mit Startups in das Geschäftssegment der Krankenkassen vordringen. Digitale Angebote werden wichtiger, um sich im Wettbewerb um Versicherte und Leistungserbringer zu differenzieren.

Kooperationen gewinnen im digitalen Gesundheitsökosystem an Bedeutung

Mit 88,5 % geht eine deutliche Mehrheit davon aus, dass das Geschäft gesetzlicher Krankenkassen bis zum Jahr 2030 deutlich stärker durch Kooperationen charakterisiert ist. Durch die Zusammenarbeit mit innovativen Unternehmen sind Verbesserungen zu erwarten, von denen vorrangig auch die Leistungsnehmer profitieren. So rechnen 96,2 % der Befragten mit Fortschritten in der Therapie und Nachsorge, 96,2 % mit einer besseren Diagnostik, und 65,4 % mit Kostenersparnissen bei Leistungsausgaben.

Konsolidierung im Gesundheitswesen reduziert die Zahl gesetzlicher Krankenkassen

Aktuell gibt es in Deutschland knapp 100 verschiedene gesetzliche Krankenversicherungen. Alle Befragten gehen davon aus, dass sich diese Zahl bis 2030 reduzieren wird. Die Mehrheit (44 %) rechnet mit 50 bis 60 verbleibenden Krankenkassen. Rund 28 % rechnen sogar damit, dass die Zahl unter 50 fällt. Der Aufbau digitaler Strukturen gilt als zunehmend wichtiges Wettbewerbskriterium. Neben dem digitalen Versorgungsmanagement messen die Befragten einem digitalen Vertrieb sowie einem digitalisierten Risikomanagement und Controlling die größte Bedeutung zu.

Einschätzung zu politischen Reformbemühungen: zu schnell und zu langsam

Trotz der wachsenden Herausforderungen zeigt der aktuelle Digitalisierungsstatus bei den gesetzlichen Krankenkassen ein sehr heterogenes Bild. Einige stehen dem digitalen Wandel offen gegenüber, andere hingegen skeptisch und abwartend. Diese Haltung spiegelt sich auch in den sehr unterschiedlichen Einschätzungen zur Umsetzungsdauer digital-bezogener politischer Reformen wider. Für 38,4 % sind die Bemühungen zu langsam, für jeweils 30,8 % zu schnell oder mittelmäßig. Die deutlichsten Effekte politischer Rahmenbedingungen erwarten die Befragten im Bereich digitaler Prozesse und einer höheren Vernetzung im Gesundheitswesen. In Hinblick auf eingesetzte Technologien rechnen sie mit bedeutenden Änderungen durch kassenindividuelle Automatisierung, Big Data und Process Mining.

Kostendruck, demografischer Wandel und Fachkräftemangel fordern die GKV heraus

Die in der Studie skizzierten Szenarien für das Jahr 2030 werfen ein Schlaglicht auf die Chancen und Herausforderungen der GKV in den kommenden Jahren. Zu den Herausforderungen zählt ein zunehmender Kostendruck. Die Qualität der Versorgungssysteme soll steigen, während langfristig die Finanzierbarkeit gesichert ist. Der demografische Wandel, eine wachsende Morbidität und ein zugespitzter Fachkräftemangel sind Hürden, denen digitale Lösungen entgegenwirken könnten.

Eine weitere zentrale Herausforderung der kommenden Jahre besteht darin, die Mitarbeitenden mitzunehmen. Sie sind größtenteils noch als Verwalter und Prüfer sozialisiert und müssen in den Veränderungs- und Umsetzungsprozess rechtzeitig einbezogen werden.

Lotse im Gesundheitssystem – die GKV als gestaltende Instanz

Die Chancen des digitalen Wandels liegen laut den Studienergebnissen maßgeblich in der Digitalisierung und Automatisierung von Abläufen. Krankenkassen können Verwaltungsabläufe schneller und effizienter gestalten. Die Automatisierung repetitiver Prozesse lässt sich für die Mitarbeitenden als Chance verstehen, mehr Zeit für interessantere und erfüllende Aufgaben zu gewinnen. 

Mit dem Einverständnis der Versicherten ließen sich Patientendaten gezielt nutzen, um individuelle Präventions- und Versorgungsangebote zu unterstützen. Sie eröffnen Potenzial für eine schnelle und passgenaue Diagnostik sowie individuelle Beratung und Hilfestellung. Die Rolle der GKV würde sich wandeln zu einer Art Lotse im Gesundheitssystem. Eine Voraussetzung dafür ist jedoch, dass der Gesetzgeber die GKV mit mehr Kompetenzen und Freiräumen ausstattet. Dann kann sie sich aus ihrer verwaltungsorientierten Rolle als Kostenerstatter weiterentwickeln.

Handlungsempfehlungen für gesetzliche Krankenkassen

Offenes Mindset behalten

Die Digitalisierung wird die Versorgungsrealität in den kommenden Jahren in vielen Aspekten verändern. Um mit dem Wandel Schritt zu halten, sind ein offenes Mindset und ein iteratives Vorgehen unabdingbar. Damit gesetzliche Krankenkassen im digitalen Wettbewerb in eine neue Rolle hineinwachsen können, müssen sie sich schrittweise mit neuen Technologien auseinandersetzen – zum Beispiel Künstliche Intelligenz (KI), Robotik, Blockchain und Virtuelle Realität (VR).

Prozesse digitalisieren

Digitale Prozesse bieten Einsparpotenziale und eine höhere Kosteneffizienz. Sie sind aber auch der Schlüssel, um neuen Mehrwert für Versicherte zu schaffen. Hier gilt es, das Potenzial der elektronischen Patientenakte (ePA), Online-Interaktionen wie Terminvereinbarungen und Angebote rund um Telemedizin auszuloten. Auch der potenzielle Ausfall von Einnahmen ist zu berücksichtigen – z.B. durch den Wegfall eines Kriteriums im Zuge des Morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs.

Datengetriebene Versorgung treiben

Gesetzliche Krankenkassen nehmen eine zentrale Rolle bei der Gesundheitssteuerung ein und genießen bei Versicherten ein hohes Vertrauen. Ihre regulatorische Stellung als Treuhänder von Gesundheitsdaten bringt sie in eine besondere Position. Kein anderer Akteur des Gesundheitswesens verfügt über so große Datenmengen. Die GKV kann im digitalen Gesundheitssystem eine zentrale Rolle als Treiber einer datengetriebenen Versorgung einnehmen.

Mitarbeitende qualifizieren

Im Zuge der Digitalisierung entstehen neue Tätigkeitsprofile mit neu benötigten Kompetenzen. Hier gilt es, den richtigen Zeitpunkt für die Schwerpunktverlagerung von alten zu neuen Qualifikationen abzupassen. Die einmaligen Datenschätze der GKV legen den Einsatz von Data Analysten und KI-Experten nahe. Im Vergleich zur freien Wirtschaft hat die GKV im Kampf um Talente jedoch Nachteile aufgrund der Vergütungsstrukturen als Körperschaft des öffentlichen Rechts.

Neue Lösungen schaffen

Die GKV steht einerseits unter Innovationsdruck, bewegt sich andererseits aber auch in einem strengen regulatorischen Rahmen. Sie muss den Möglichkeitsraum für Innovationen möglichst gut austarieren und dabei auch Kooperationen mitdenken. So sind Konstellationen denkbar, in denen Startups für bestimmte Versorgungsprozesse die Kundenschnittstelle und das Frontend verantworten, während die Krankenkasse sämtliche Basisfunktionen im Backend übernimmt.

„Die Umwälzungen in Folge der Digitalisierung des Gesundheitswesens erreichen die GKV. Krankenkassen müssen sich fragen, welche Rolle sie künftig in der digitalen Patientenreise einnehmen.“

Thorsten Weber,Director, Leiter Beratung GKV bei PwC Deutschland

Die Methodik

Die Studie wurde im Auftrag von der PricewaterhouseCoopers GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft (PwC) sowie Strategy&, der globalen Strategieberatung von PwC, durchgeführt. Der Studienzeitraum erstreckte sich vom 1. Juni 2021 bis zum 1. Juni 2022. Für die Studienleitung (Aufbau des Fragebogens, die Auswertung und Interpretation) ist Prof. Dr. David Matusiewicz, Dekan und Direktor des Instituts für Gesundheit & Soziales (ifgs) der FOM Hochschule, verantwortlich. Dank gilt auch Prof. Dr. Gerald Lux und Patricia Beck von der FOM Hochschule für wertvolle Hinweise und Unterstützung bei der vorliegenden Studie. Die Studie basiert auf einem Methodenmix (Mixed-Method-Ansatz) aus zwei Komponenten, einer Primärdatenerhebung mittels Online-Fragebogen und Expert:inneninterviews aus dem Umfeld der GKV.

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