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Thorsten Weber
Director, Leiter Beratung GKV bei PwC Deutschland
Tel.: +49 211 981-4315
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Gesetzliche Krankenversicherungen befinden sich in einem stark wandelnden Umfeld. Im Zuge der Digitalisierung stehen sie nicht nur mit anderen Krankenkassen im Wettbewerb. Sondern auch mit Startups und bald möglicherweise auch mit Tech-Konzernen, die längst ein Auge auf den deutschen Gesundheitsmarkt geworfen haben. Trotz dieser herausfordernden Situation ist die Digitalisierung in einigen Krankenkassen immer noch kein Vorstandsthema. Dabei entscheidet sich jetzt, welche Rolle sie künftig in der Versorgung spielen, wie sie in digitale Ökosysteme eingebunden sind und welchen Zusatznutzen sie ihren Kunden entlang der „digitalen Patientenreise“ (Patient Journey) bieten.
Die vorliegende Studie erhebt den Status quo der Digitalisierung in der GKV und skizziert mögliche Szenarien für das Jahr 2030. Daraus abgeleitet skizziert sie Handlungsoptionen in mehreren relevanten Feldern – von der Aufbau- und Ablauforganisation über die personelle und kulturelle Ebene bis hin zum Umgang mit Wettbewerbern, die von außerhalb des Gesundheitswesens in den Markt drängen.
Digitalisierung und Automatisierung machen auch vor den Geschäftsmodellen der gesetzlichen Krankenkassen nicht halt. Sie unterliegen einem Stresstest, der die klassische Rolle der Versicherungen als Erstattungs- und Prüfungsinstanzen herausfordert. Der Markt wird messbarer und transparenter. Neue Akteure wie Startups und Tech-Konzerne drängen in das entstehende digitale Gesundheitsökosystem. 42 % der im Rahmen der Studie Befragten befürchten, dass sie bald mit Tech-Konzernen wie Amazon und Apple konkurrieren. 30 % gehen davon aus, dass letztere potenziell auch mit Startups in das Geschäftssegment der Krankenkassen vordringen. Digitale Angebote werden wichtiger, um sich im Wettbewerb um Versicherte und Leistungserbringer zu differenzieren.
Mit 88,5 % geht eine deutliche Mehrheit davon aus, dass das Geschäft gesetzlicher Krankenkassen bis zum Jahr 2030 deutlich stärker durch Kooperationen charakterisiert ist. Durch die Zusammenarbeit mit innovativen Unternehmen sind Verbesserungen zu erwarten, von denen vorrangig auch die Leistungsnehmer profitieren. So rechnen 96,2 % der Befragten mit Fortschritten in der Therapie und Nachsorge, 96,2 % mit einer besseren Diagnostik, und 65,4 % mit Kostenersparnissen bei Leistungsausgaben.
Aktuell gibt es in Deutschland knapp 100 verschiedene gesetzliche Krankenversicherungen. Alle Befragten gehen davon aus, dass sich diese Zahl bis 2030 reduzieren wird. Die Mehrheit (44 %) rechnet mit 50 bis 60 verbleibenden Krankenkassen. Rund 28 % rechnen sogar damit, dass die Zahl unter 50 fällt. Der Aufbau digitaler Strukturen gilt als zunehmend wichtiges Wettbewerbskriterium. Neben dem digitalen Versorgungsmanagement messen die Befragten einem digitalen Vertrieb sowie einem digitalisierten Risikomanagement und Controlling die größte Bedeutung zu.
Trotz der wachsenden Herausforderungen zeigt der aktuelle Digitalisierungsstatus bei den gesetzlichen Krankenkassen ein sehr heterogenes Bild. Einige stehen dem digitalen Wandel offen gegenüber, andere hingegen skeptisch und abwartend. Diese Haltung spiegelt sich auch in den sehr unterschiedlichen Einschätzungen zur Umsetzungsdauer digital-bezogener politischer Reformen wider. Für 38,4 % sind die Bemühungen zu langsam, für jeweils 30,8 % zu schnell oder mittelmäßig. Die deutlichsten Effekte politischer Rahmenbedingungen erwarten die Befragten im Bereich digitaler Prozesse und einer höheren Vernetzung im Gesundheitswesen. In Hinblick auf eingesetzte Technologien rechnen sie mit bedeutenden Änderungen durch kassenindividuelle Automatisierung, Big Data und Process Mining.
Die in der Studie skizzierten Szenarien für das Jahr 2030 werfen ein Schlaglicht auf die Chancen und Herausforderungen der GKV in den kommenden Jahren. Zu den Herausforderungen zählt ein zunehmender Kostendruck. Die Qualität der Versorgungssysteme soll steigen, während langfristig die Finanzierbarkeit gesichert ist. Der demografische Wandel, eine wachsende Morbidität und ein zugespitzter Fachkräftemangel sind Hürden, denen digitale Lösungen entgegenwirken könnten.
Eine weitere zentrale Herausforderung der kommenden Jahre besteht darin, die Mitarbeitenden mitzunehmen. Sie sind größtenteils noch als Verwalter und Prüfer sozialisiert und müssen in den Veränderungs- und Umsetzungsprozess rechtzeitig einbezogen werden.
Die Chancen des digitalen Wandels liegen laut den Studienergebnissen maßgeblich in der Digitalisierung und Automatisierung von Abläufen. Krankenkassen können Verwaltungsabläufe schneller und effizienter gestalten. Die Automatisierung repetitiver Prozesse lässt sich für die Mitarbeitenden als Chance verstehen, mehr Zeit für interessantere und erfüllende Aufgaben zu gewinnen.
Mit dem Einverständnis der Versicherten ließen sich Patientendaten gezielt nutzen, um individuelle Präventions- und Versorgungsangebote zu unterstützen. Sie eröffnen Potenzial für eine schnelle und passgenaue Diagnostik sowie individuelle Beratung und Hilfestellung. Die Rolle der GKV würde sich wandeln zu einer Art Lotse im Gesundheitssystem. Eine Voraussetzung dafür ist jedoch, dass der Gesetzgeber die GKV mit mehr Kompetenzen und Freiräumen ausstattet. Dann kann sie sich aus ihrer verwaltungsorientierten Rolle als Kostenerstatter weiterentwickeln.
Die Digitalisierung wird die Versorgungsrealität in den kommenden Jahren in vielen Aspekten verändern. Um mit dem Wandel Schritt zu halten, sind ein offenes Mindset und ein iteratives Vorgehen unabdingbar. Damit gesetzliche Krankenkassen im digitalen Wettbewerb in eine neue Rolle hineinwachsen können, müssen sie sich schrittweise mit neuen Technologien auseinandersetzen – zum Beispiel Künstliche Intelligenz (KI), Robotik, Blockchain und Virtuelle Realität (VR).
„Die Umwälzungen in Folge der Digitalisierung des Gesundheitswesens erreichen die GKV. Krankenkassen müssen sich fragen, welche Rolle sie künftig in der digitalen Patientenreise einnehmen.“
Die Studie wurde im Auftrag von der PricewaterhouseCoopers GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft (PwC) sowie Strategy&, der globalen Strategieberatung von PwC, durchgeführt. Der Studienzeitraum erstreckte sich vom 1. Juni 2021 bis zum 1. Juni 2022. Für die Studienleitung (Aufbau des Fragebogens, die Auswertung und Interpretation) ist Prof. Dr. David Matusiewicz, Dekan und Direktor des Instituts für Gesundheit & Soziales (ifgs) der FOM Hochschule, verantwortlich. Dank gilt auch Prof. Dr. Gerald Lux und Patricia Beck von der FOM Hochschule für wertvolle Hinweise und Unterstützung bei der vorliegenden Studie. Die Studie basiert auf einem Methodenmix (Mixed-Method-Ansatz) aus zwei Komponenten, einer Primärdatenerhebung mittels Online-Fragebogen und Expert:inneninterviews aus dem Umfeld der GKV.