Forecasting per Machine Learning: Henrik Georgsson von Viega im Interview

Ein Interview mit Henrik Georgsson. Das Unternehmen Viega mit Sitz in Attendorn zählt zu den Weltmarkt- und Technologieführern der Installationsbranche. Als qualitätsorientiertes Familienunternehmen mit international fast 5.000 Mitarbeitenden verfügt das Unternehmen über 120 Jahre Erfahrung in der Gebäudetechnik. Die Pandemie und der andauernde Krieg haben, wie auch in vielen anderen Unternehmen, das Geschäft volatiler gemacht – und damit die Planung zunehmend erschwert. Henrik Georgsson, Head of Global Sales and Operations Planning bei Viega, erläutert im Interview, wie das Unternehmen von einem neuen Forecasting inklusive Machine Learning profitiert, welche Herausforderungen es bei der Umsetzung gab und warum das neue Setup ein Grundstein für künftige Transformationsprojekte ist. 

Über Henrik Georgsson: Henrik Georgsson ist seit Juli 2021 Head of Global Sales and Operations Planning bei Viega. Zuvor war der studierte Kaufmann (MBA) und SAP S/4HANA-Kenner über 20 Jahre im Finance und Controlling aber auch zwischenzeitlich im Supply-Chain-Management im B2B-Umfeld unterwegs – zuletzt für NSK Deutschland und Borgers.

Wie hat Viega vor der Modernisierung der Forecast-Prozesse seine Absatzprognosen durchgeführt – und auf Basis welcher Technologien?

Henrik Georgsson: Früher haben wir für den nahen Horizont weitestgehend auf Excel gesetzt. Für einfache extrapolierende Funktionen und kleinvolumige Forecasts über die nächsten drei Monate hinaus, etwa auf Basis einfacherer Indikatoren wie dem Tagesumsatz, hatten wir SAP R3 im Einsatz. Und auch qualitative Aussagen aus dem Vertrieb waren ein wichtiger Faktor. Referenz zum Abgleich war jedoch immer der jahreszyklische Geschäftsverlauf aus dem Vorjahr – inklusive des Abgleichs mit den angepeilten Budgets.

Wie haben sich die Herausforderungen mit dem Legacy-System konkret auf das Geschäft ausgewirkt?

Georgsson: Bei Engpässen sind Ursache und Wirkung selten monokausal herzuleiten. So hatten wir im Frühjahr 2021 eine unerwartete Nachfragespitze, die wir historisch nicht herleiten konnten: Im März und April stieg die US-Nachfrage im Zero-Lead-Bereich plötzlich rapide an. Es drohten Stock-outs und ein Produktionsrückstand. Mit einem machine-learning-gestützten Forecast hätten wir solche Trends eventuell früher erkannt. Die Technologie erlaubt auf Materialebene bei 18.000 Artikeln präzise Analysen und Trenderkennung – das ist mit Excel unmöglich oder zumindest nicht bedienbar.

Ein anderes großes Thema: Bei mangelbehafteten Prozessen wird aus der Not oft Expertenwissen geboren. Das führt dazu, dass Prozesse weniger aufgrund ihres Designs oder den zugrundeliegenden Technologien funktionieren, sondern durch individuelles Know-how. Das kann bei Personalfluktuationen schnell fatale Folgen haben. Auch diesem Problem wollten wir mit unserem neuen Forecasting-Setup entgegenwirken. Das Ziel: robustere Forecasts durch mehr unterstützende Technologien wie Machine Learning, klare Prozesse, verbindliche Methoden und natürlich eine belastbarere statistische Basis.

Wie hoch waren die Abweichungen zwischen Forecasts und Wirklichkeit?

Georgsson: Teils erheblich, je nach Region und Markt. Bis zum Wechsel auf das neue Modell hatten wir bei Viega noch keine systematischen Anforderungen an die Prognosegenauigkeit – das ändert sich jetzt. In stabilen Zeiten war das kein Problem, aber insbesondere die letzten zwei Jahre haben uns gezeigt, dass das System bei schnellen Trendwenden an seine Grenzen stößt. So hatten wir vor allem 2021 scheinbar unvermittelte Nachfragespitzen, die wir so vorher noch nicht erlebt haben. Ich bin aber überzeugt, dass sich so etwas abzeichnet, wenn man genauer hinschaut – und weiß, wo man hinschauen muss. Dafür gilt es, Trends früh aufzugreifen. Nicht ganz einfach, bei bis zu 18.000 Artikeln mit jeweils ganz eigenen Nachfragespitzen in den jeweiligen Produkt- oder Materialgruppen. Je später wir tatsächliche Veränderungen bemerken, desto weniger Vorlaufzeit hat die Produktion, um darauf zu reagieren.

Welche Herausforderungen haben sich aus dem neuen Forecasting-Prozedere für Ihr Unternehmen ergeben?

Georgsson: Die größte: den nötigen Input datentechnisch bereitzustellen. Formate, Quellen, Anbindung. Dann folgt der bewusste Umgang mit dem Datenmanagement im Unternehmen selbst. Und zu guter Letzt war uns wichtig, dass wir in den neuen Forecastings weiter jede unserer globalen Vertriebsregionen – zum Beispiel Indien, USA und Deutschland – repräsentieren und auch gemeinsam beteiligen können. Damit das gelingt, mussten wir auch die spezifische statistische Basis für die Regionen bereitstellen – nicht leicht, aber absolut notwendig. Hier steckt der Teufel im Detail.

Inwiefern musste die Datenbasis für die neuen Prozesse auf- oder ausgebaut werden? Und wo gibt es weiter Optimierungspotenzial?

Georgsson: Auftragsdaten haben bei uns ein neues Gewicht bekommen. Forecastings nur auf Basis des fakturierten Umsatzes lassen sich in Zeiten von Engpässen kaum rücktesten, denn Engpässe liefern unnatürliche Nachfragezahlen, völlig losgelöst vom Kundenwunsch. Doch Auftragsdaten lagen im Gegensatz zu Absatz- und Umsatzdaten noch nicht in unserem SAP BW (Business Warehouse). 

Um das hinzubekommen, mussten wir teilweise mit externer Unterstützung Oracle-Datenbanken direkt in SAP ansprechen. Die Umsetzung hat um die vier Monate gedauert. Künftig stehen noch die langfristige Verwaltung, Ablage und Bereitstellung der neuen Forecast-Daten auf dem Plan – dazu nutzen wir Snowflake. Das neue Wissen müssen wir nutzen und klare Dashboards können uns dabei sicher noch helfen.

Wie gelingt die Implementierung des neuen Modells in die operative Arbeit bei Viega?

Georgsson: Neben der Datenproblematik ist natürlich die praktische Arbeit mit den neuen Forecasts eine Herausforderung, also der Umstieg von Excel auf eine statistikgestützte Lösung. Neue Modelle entwickeln, sie entlang Nachfragemustern, Produktgruppen und Märkten bis zum optimalen Setting anzupassen – das gelingt auch unseren Demand Plannern nicht über Nacht. Bisher arbeiten wir nur mit kleineren Datensätzen, die sich gut skalieren lassen. Ich schätze, in zwei Monaten sind wir bereit, die Forecasts übergreifend operativ zu nutzen.

Machine-Learning-Ansätze sind für viele Unternehmen noch ungewohnt und treffen oft auf Skepsis. War das bei Viega ähnlich?

Georgsson: Im Zuge des neuen Forecasting-Prozesses nutzen wir Machine Learning tatsächlich das erste Mal bei Viega. Natürlich gab es vorher stellenweise Skepsis, ob der Technologie eine Relevanz beigemessen wird, die sie nicht einhalten kann. 

Diese Skepsis entspringt allerdings oft einem zu kurz greifenden Verständnis für den Ansatz. Daher haben wir immer wieder betont, nicht nur exklusiv statistisch oder maschinell zu prognostizieren. Manuelle Anpassungen basierend auf Erfahrung, individuellen Einschätzungen und Einbezug von Market Intelligence bleiben weiter erfolgskritisch. Das System kann nicht alles wissen.

Ist dafür auch ein Personalaufbau erforderlich? 

Georgsson: Bisher ist kein Personalaufbau für die neuen Forecasting-Prozesse geplant. Unsere bestehenden Demand Planner sollen – entsprechend nachgeschult – die Datenqualität und -belastbarkeit durch den neuen Mensch-Technologie-Ansatz verbessern. Wir wollen keine Menschen ersetzen – aber umgekehrt haben jetzt einzelne Demand Planner 18.000 Artikel auf dem Schirm und ermöglichen so eine Qualität, die fünf oder sechs absolute Excel-Profis kaum hätten erzielen können. 

Wie sah die Rollenverteilung zwischen der IT-Abteilung, den Fachbereichen und PwC bei der Projektumsetzung aus? Und wie viel Feintuning war nötig, bis das aktuelle Modell stand?

Georgsson: Während des ganzen Projekts hat PwC uns systemseitig unterstützt und die methodische Vermittlung stark vorangetrieben – etwa mit Coaching, Workshops oder als direkter Sparrings Partner. Das war essenziell für die gemeinschaftliche Auseinandersetzung der Teams mit dem neuen Prozess. 

Zudem hat PwC im laufenden Projekt Forecast-Ergebnisse mit der PwC Software Forecast Plus geliefert und konkrete Forecast-Zahlen aufbereitet, die wir diskutieren und bewerten konnten. Forecast Pro haben wir dann als erstes Tool angeschafft, um den neuen methodischen Angang grundsätzlich zu testen und in das Thema hereinzukommen.

Auf unserer Seite hat ein IT-Projektmanager das systemseitige Anforderungsmanagement sowie die Anschaffung und Kommunikation von und mit Forecast Pro übernommen. Dann haben wir unsere Demand Planner aus den USA, Deutschland und Indien als Forecast-hauptverantwortliche Endnutzer ins Team geholt. Aber auch unser Global S&OP-Team und das Supply Chain Controlling waren dabei – letzteres insbesondere als Schnittstelle zur Produktion, einem unserer wichtigsten Stakeholder.

Plant Viega, das Machine-Learning-basierte Forecasting künftig auch in anderen Bereichen wie dem Einkauf umzusetzen?

Georgsson: Bislang haben wir den Materialbedarf über die Bedarfsauflösung des Excel-basierten Forecasts abgeleitet. Der Prozess der Bedarfsauflösung im MRP-Lauf wird bleiben. Eine Verbesserung der Forecast-Qualität durch den neuen Methodeneinsatz erwarten wir allerdings auch für den abgeleiteten Materialbedarf, um den Einkauf bessere Datenqualität zu liefern.

Welche anderen Schritte haben bis dahin Priorität?

Georgsson: Die datentechnische Bereitstellung der Nachfragehistorie aus SAP stellte sich als aufwendiger heraus als zunächst gedacht. Bis wir also andere Bereiche angehen können, müssen wir unsere Datenstrategie nach dem Close-out des Projekts im Mai zuerst effektiv und voll konzentriert auf die Straße bringen. PwC hat uns im Laufe des Projekts als Impulsgeber begleitet, um das Mindset für die neuen, Machine-Learning-basierten statistischen Verfahren aufzubauen. Künftig müssen wir den Prozess weiter objektivieren und transparenter machen. Der neue Demand Forecast ist gleichermaßen Basis und Testlauf für viele weitere Prozesse, etwa im Einkauf und Cashflow. Damit geht es dann nächstes Jahr weiter.

Gehen wir ein halbes Jahr in die Zukunft: Was haben Sie geschafft? Was kommt als nächstes? 

Georgsson: Die Liste der Vorteile, von denen wir auch in naher Zukunft schon operativ profitieren, ist lang: Objektivere, granularere und transparentere Forecasts bei höherer Prognosegüte, weniger individuelles Silowissen oder Analysen bis auf Materialebene für noch mehr Wertschöpfung. 

Darüber hinaus kann ich mir vorstellen, dass die Forecasts auch unsere Finanzplanung auf eine neue Ebene bringen werden – etwa mit einem Bruttomargen-Forecast als Basis für eine rollierende Finanzplanung und eine genauere Prognose der Betriebsergebnisse. Das wird gerade in den aktuellen Zeiten volatiler Märkte und Trendbrüche immer wichtiger.

Vielen Dank für Ihre Zeit!

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