06 Juli, 2020
Pandemien stehen auf der Risikoliste eines jeden Risikomanagements, und sie sind Teil jeder Business-Continuity-Übung. Die SARS-CoV-2-Pandemie ist kein „Black Swan“-Ereignis, sondern eine Realität in der Geschichte der Menschheit.
Durch die Pandemie kam die Welt bei voller Geschwindigkeit für alle überraschend zum Stillstand. Die Welt war darauf nicht vorbereitet, obwohl sich Ähnliches in der Geschichte schon mehrfach ereignet hat. Was bedeutet das für die Weltwirtschaft und für die Interaktion der europäischen und der chinesischen Wirtschaft? Bedeutet es lediglich eine Pause oder eher ein Reset? Aufgrund unserer Informationen und Beobachtungen gehen wir davon aus, dass es eine Pause sein wird, gefolgt von einem Reset.
Die Globalisierung brachte ein deflationäres Element in die Weltwirtschaft: Skaleneffekte führten zu niedrigeren Produktionskosten. Ganze Industrien siedelten sich in China an. Das volle Ausmaß der Zentralisierung wurde der Weltöffentlichkeit jedoch erst im ersten Quartal 2020 klar, als Lieferketten in China und anderswo unterbrochen wurden. Einige Organisationen waren sich gar nicht bewusst, wie stark sie gefährdet waren, da der geografische Ursprung der Lieferteile auf dritter oder tieferer Ebene nicht bekannt war.
Im zweiten Quartal wurden die Logistikbarrieren in einigen Ländern und Regionen nach und nach aufgehoben, aber die Transportkapazitäten werden noch immer stark durch Kapazitätsbeschränkungen und exorbitante Preise für Luftfracht beeinträchtigt.
In einer ersten Reaktion auf die krisenbedingten Versorgungsprobleme haben die Unternehmen begonnen, Lagerbestände entlang der Wertschöpfungskette aufzubauen. Dadurch werden Lieferketten sofort robuster, aber auch die Kosten steigen in die Höhe, da mehr Betriebskapital gebunden wird.
Zusätzliches Betriebskapital wird aufgrund längerer Lieferzeiten als Folge geänderter Routen benötigt. Das erhöht die Produktkosten und zwingt Organisationen, Finanzierungsquellen bis zum Maximum auszuschöpfen oder Alternativen zu finden. Einige Unternehmen benötigen möglicherweise eine erhöhte oder erstmals in der Unternehmensgeschichte eine Überbrückungsfinanzierung. Im derzeitigen Marktumfeld ist es ungewiss, ob die höheren Kosten an die Verbraucher weitergegeben werden können oder ob sie die Gesamtrentabilität der Organisationen verringern.
Der Wechsel von Lieferanten und die Änderung von Transportwegen kann zu Änderungen beim Produktursprung führen. Neue Transportwege und ein neues Ursprungsland der beschafften Teile können die Vorteile von Freihandelsabkommen (FHA) oder von Abkommen zur Vermeidung von Doppelbesteuerung (DBA) zunichtemachen, was Zölle und Importsteuersätze und somit auch die Produktkosten erhöhen würde. Dies beeinträchtigt die Strategie eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen Kostenvorteilen und Risiken. Diese ursprüngliche Strategie war mit erheblichen Investitionsausgaben verbunden, um sicherzustellen, dass sich die Produktionsanlagen am richtigen Standort befinden.
In einem zweiten Schritt werden die Unternehmen die langfristige Robustheit ihrer Lieferkette erhöhen müssen. Ein Modell könnte der 60-20-20-Ansatz sein: Die Hauptbasis liefert 60 Prozent der erforderlichen Versorgung und zwei weitere Basen jeweils 20 Prozent. Diese zweite und die dritte Versorgungsbasis können im Krisenfall die Produktivität verdoppeln und 80 Prozent der benötigten Versorgung liefern.
Um das Risiko einer geografischen Unterbrechung abzusichern, sind die zweite und dritte Versorgungsbasis am besten an unterschiedlichen Standorten platziert. Wichtige Kriterien für die Auswahl sind die Verfügbarkeit von FHAs und DBAs sowie die Herkunftsquelle. Wenn Regierungen eine nationale Schlüsselproduktliste erstellen und damit festlegen, welche Waren und Dienstleistungen vor Ort produziert werden müssen, erschwert dies die Suche nach Standorten für alternative Lieferanten. Ein europäischer Ansatz für eine solche Schlüsselproduktgesetzgebung wäre erstrebenswert. Die Umsetzung dieser oder ähnlicher Lieferkettenmodelle wird jedoch den Unternehmen und in der Folge den Verbrauchern in Form höherer Produktpreise beträchtliche Kosten verursachen.
Die finanziellen Überlegungen zum Aufbau von Lagerbeständen entlang der Lieferkette und zur langfristigen Erhöhung ihrer Robustheit sind von großer Bedeutung. Ein erhöhtes Betriebskapital, die Finanzierung von Investitionen zusätzlicher Versorgungsbasen – mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in China oder Südostasien – und höhere Produktkosten werden die Rentabilität verringern und die Bilanzen weiter belasten.
Die hier skizzierten Szenarien werden viele Branchen und Länder betreffen. Eine direkte Folge der Verringerung der Unternehmensrentabilität ist eine Reduktion der Steuereinnahmen, die dringend für wirtschaftliche Programme und den Abbau der Staatsschulden benötigt werden.
Es ist wichtig, die Finanzierungsmöglichkeiten der Lieferpartner auf jeder Stufe und auf jeder Ebene der Wertschöpfungskette zu verstehen und ihre Fähigkeit einzuschätzen, sich an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen. Bestimmte Fertigungsmodelle werden finanziell nicht mehr tragfähig oder wünschenswert sein. Bestimmte Produktkategorien werden verschwinden, wenn Märkte schrumpfen oder verschwinden, da Produktkostensteigerungen von Marktteilnehmern eventuell nicht akzeptiert werden.
Im Moment sind wir uns alle der durch eine Pandemie verursachten Risiken in der Lieferkette bewusst. Aber die Menschheit neigt dazu, negative Ereignisse rasch zu verdrängen. Zurückzukehren zur Situation vor der Krise und die Lehren des Jahres 2020 zu ignorieren könnte für Unternehmen, die sich auf Quartalsergebnisse, Finanzanalystenberichte sowie auf Aktionärsrenditen konzentrieren und damit die Interessen der Stakeholder ignorieren, fatal sein.
Unternehmen müssen daher alle verfügbaren Ressourcen ausschöpfen und eine langfristige Sichtweise entwickeln, um sich in der Post-COVID-19-Landschaft optimal zu positionieren.