Dekarbonisierung ist und bleibt einer der wichtigsten Hebel der Nachhaltigkeitsstrategie. Während viele Unternehmen damit hohe Investitionen assoziieren, bieten sich immer mehr Chancen, langfristig Kosten einzusparen. Ein Interview mit Andree Simon Gerken und Prof. Dr. Jürgen Peterseim über die Möglichkeiten, Emissionen erfolgreich und wirtschaftlich sinnvoll abzubauen.
Herr Peterseim, Herr Gerken, mit der Anti-Greenwashing-Richtlinie möchte die EU den Schwerpunkt der Unternehmen von Kompensationspraktiken stärker auf reale Nachhaltigkeitsmaßnahmen verlagern. Können die neuen Regeln das leisten?
Jürgen Peterseim: Ja, die Richtlinie ist ein wichtiger Schritt für die nachhaltige Transformation der Wirtschaft und verbessert die Rahmenbedingungen für den Wandel. Wie bei jeder Regelung wird es sicher auch hier Anpassungen geben müssen. Die Effekte sind aber bereits spürbar – Unternehmen gehen das Thema verstärkt an.
Durch die EU-Vorgaben rückt die Dekarbonisierung stark in den Fokus. Wo stehen deutsche Unternehmen dabei?
Peterseim: Die energieintensiven Industrien wie Chemie oder Maschinenbau sind auf dem Weg und gehen das Thema an. Dort beschäftigt man sich viel mit den eigenen Emissionen (Scope-1- und -2-Emissionen) aber auch mit den Emissionen aus der Lieferkette (Scope-3-Emissionen). Hier ist allerdings anzumerken, dass international agierende Unternehmen teilweise noch vor der Herausforderung stehen, die Komplexität in ihren Lieferketten zu durchdringen.
Andree S. Gerken: Hierzulande sind die Rahmenbedingungen aus ordnungspolitischer Sicht für viele Unternehmen nicht immer einfach. In den Nachbarländern ist das oft weniger komplex und damit eindeutiger. Unternehmen setzen ihre Maßnahmen daher immer öfter im Ausland um – beispielsweise in Spanien, wo die Energie grüner und günstiger ist.
Wie geht es nun mit offsetting-basierten Klimastrategien weiter?
Peterseim: Unternehmen, die bisher auf Kompensationsprogramme gesetzt haben, müssen jetzt umdenken und analysieren, mit welchen Technologien sie ihre Emissionen reduzieren können.
Es gilt, an allen Standorten genau zu prüfen, wo Technologien die Energieeffizienz verbessern, beispielsweise über Wärmerückgewinnung, bzw. welche Energien mit erneuerbaren Lösungen substituiert werden können.
Gerken: Es kommt insgesamt darauf an, Ressourcen besser zu nutzen. Dafür brauchen wir eine viel stärkere Industriesymbiose, in der mehr Synergieeffekte zum Tragen kommen. Beispielsweise, indem als Nebenprodukt entstehende Prozesswärme anderenorts für die Beheizung eingesetzt wird. Das gelingt aber nur mit einem hohen Grad an Innovation und Vernetzung. Die aktuelle Gesetzgebung fördert das nicht genug – sie setzt eher auf Verbote, statt neue Räume zu eröffnen.
Gibt es Industrien, die bei der Dekarbonisierung bereits weiter sind als andere?
Gerken: Ja, da die Transformation aufgrund der Gegebenheiten gewissermaßen in Wellen erfolgen muss, gibt es natürlich Unterschiede. In den energieintensiven Industrien spüren wir einen großen mittelbaren Druck aus der Energie- und CO2-Preispreisentwicklung und daher gibt es dort bereits größere Fortschritte.
In der nächsten Welle sehen wir aktuell den Handel folgen, in denen es aufgrund von unmittelbaren Kundenanforderungen (inkl. LkSG) vor allem um Scope-3-Emissionsreduktionen geht. Diese Staffelung ist insofern auch sehr sinnvoll, da die Ressourcen damit effizienter verteilt sind, sämtliche Industrien Zug um Zug zu transformieren.
Welche Rolle spielt die Kreislaufwirtschaft in diesem Kontext?
Peterseim: Zirkuläre Wertschöpfung ist für die Dekarbonisierung zentral. Es geht nicht darum, den Status quo zu dekarbonisieren, sondern lineare Wertschöpfungsmodelle gegen zirkuläre auszutauschen. Dafür müssen wir den Schwerpunkt auf Technologien verlagern, mit denen wir Abfälle als Rohstoffquelle nutzbar machen. Neu entstehende Produkte müssen wiederum so konzipiert sein, dass sie leicht zu recyceln sind. Wir befinden uns in einer Situation der Verknappung, die natürlichen Ressourcen sind begrenzt. Die Kreislaufwirtschaft macht circa die Hälfte des gesamten Dekarbonisierungspotenzials aus.
Wo fangen Unternehmen an, die sich bisher noch nicht eingehend mit dem Thema beschäftigt haben?
Peterseim: Die eigene Treibhausgasbilanz zu ermitteln ist immer der erste Schritt. Unternehmen müssen zunächst verstehen, in welchen Bereichen sie die größten Emissionen haben. Das gilt sowohl für die Eigenerzeugung als auch für die Lieferketten. Auf Basis dieser Baseline können sich Unternehmen dann ein Klimaziel setzen und konkrete Maßnahmen und einen Zeitplan zur Erreichung dieses ableiten.
Die zentrale Frage lautet, mit welchem Euro der größte Effekt entsteht. Oder umgekehrt: Was ist der Plan mit den geringsten Kosten?
Für global operierende Unternehmen bedeutet das beispielsweise, Photovoltaikanlagen nicht zuerst in Deutschland zu installieren, sondern an den Standorten, wo es die meisten Sonnenstunden gibt – etwa in Spanien oder Italien.
In welchem Rahmen bewegen sich die erforderlichen Investitionen dafür?
Gerken: Das hängt immer vom Einzelfall sowie den jeweiligen Maßnahmen und Rahmenbedingungen ab. Es ist allerdings ein weit verbreitetes Missverständnis, dass durch die nachhaltige Transformation für Unternehmen alles teurer wird. Denn an vielen Stellen sparen sie langfristig. Viele Industrieanlagen kommen jetzt in den Reinvestitionszyklus. Unternehmen sollten dort ganz genau hinschauen. Wir haben Fälle, in denen die Umstellung der Technologien von fossile auf elektrische Energie nur 10 % mehr als der Neubau gekostet hat. Das rechnet sich in Hinblick auf die niedrigeren Betriebskosten und die langen Laufzeiten der Anlagen schnell. Überall dort, wo es um Effizienz geht, sparen Unternehmen nicht nur Emissionen sondern auch Kosten ein. Dekarbonisierung wird damit zu einem Business Case.
Peterseim: Für solche langfristigen Investitionsentscheidungen braucht es unumstößliche Rahmenbedingungen, auf die sich die Unternehmen verlassen können. Aktuell ist die Gesetzeslage aber teilweise volatil. Das führt dazu, dass Unternehmen ihre neuen Anlagen im Zweifel im Ausland bauen – also dort, wo die erforderliche Sicherheit da ist.
Was bräuchte es, um diese Entwicklung zu stoppen?
Gerken: Ich glaube, dass bessere Anreizsysteme ein wichtiger Hebel wären. Statt vorab zu subventionieren, ohne die genauen Effekte beziffern zu können, sollten lieber erfolgreiche Maßnahmen durch Steuerbegünstigungen gefördert werden. Auch so wird ein Business Case daraus.
Peterseim: Gewisse Anreize bestehen glücklicherweise schon jetzt. Zum einen am Kapitalmarkt, wo Unternehmen mit guten ESG-Ratings von besseren Konditionen profitieren. Zum anderen dort, wo einflussreiche Konzerne bereits Partner und Zulieferer mit positiven Bewertungen bevorzugen.
Die Wettbewerbsvorteile sind da – jetzt gilt es, sie zu ergreifen.
Andree Simon Gerken verantwortet als Partner bei PwC Deutschland im Bereich Nachhaltigkeitsberatung unter anderem die technologische Transformationsplanung und Wirtschaftlichkeitsbewertung in Kundenprojekten. Zu seinen Kernkompetenzen gehört die Life-Cycle-Analyse und Baseline-Ermittlung.
Prof. Dr. Jürgen Peterseim ist Director im Bereich Nachhaltigkeitsberatung bei PwC Deutschland. Dort unterstützt er Kunden unter anderem dabei, Strategien für Dekarbonisierung, Kreislaufwirtschaft und Wasserstoff zu entwickeln und umzusetzen.