Interview: „Das Fit-for-55-Paket erfordert schnelles und interdisziplinäres Handeln“

20 Januar, 2022

Ein Interview mit Folker Trepte, Dr. Volker Fitzner und Dr. Klaus-Peter Gushurst. Europa gilt weltweit als Vorreiter im Bereich Klimaschutz und strebt mit dem „European Green Deal“ bis zum Jahr 2050 Klimaneutralität an. Ein Etappenziel, das sich die Europäische Union gesteckt hat, ist die Reduktion der CO2-Emissionen um 55 Prozent bis zum Jahr 2030 im Vergleich zu 1990.

Mit dem „Fit-for-55“-Paket legt die Europäische Kommission nun ein weitreichendes Maßnahmenpaket vor, um die ambitionierten Klimaziele auch zu erreichen. Wie das Vorhaben verschiedene Sektoren zum Handeln zwingt, aber auch Chancen für nachhaltiges Wirtschaftswachstum bieten kann, erklären Folker Trepte, Leiter Energiewirtschaft bei PwC Deutschland, Volker Fitzner, PwC Global Leader für Chemicals, und Klaus-Peter Gushurst, Leiter Industries & Innovation bei PwC Deutschland.

Schwerpunkt: Energiesektor

Herr Trepte, das ambitionierte „Fit-for-55“-Paket der EU-Kommission stellt insbesondere die Energieindustrie als CO2-intensivste Branche vor Herausforderungen. Welche Richtlinien oder Maßnahmen sind besonders maßgebend?

Folker Trepte: Im Hinblick auf die CO2-Intensität der Energiebranche steht natürlich insbesondere die weitere Limitierung und Reduktion frei zugeteilter Emissionszertifikate im EU-Emissionshandel im Fokus. Durch den weiteren Anstieg der Preise für Emissionszertifikate wird der Druck auf Unternehmen, schneller zu dekarbonisieren, weiter erhöht.

Aber auch die EU-Richtlinie für erneuerbare Energien fordert rasches und wirkungsvolles Handeln: Der angestrebte Anteil erneuerbarer Energien bis 2030 soll um acht Prozentpunkte auf 40 Prozent erhöht werden.

Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung nimmt sich sogar ein noch ehrgeizigeres Ziel für den Anteil erneuerbarer Energie vor: 80 Prozent.

Hierfür benötigen wir umfangreiche Investitionen in solare Photovoltaik-Anlagen, Windparks und Wasserstoff.

Was bedeutet das konkret für die bestehenden Geschäftsmodelle von Energieversorgungsunternehmen?

Trepte: Unternehmen mit Geschäftsmodellen, die derzeit stark auf fossilen Brennstoffen basieren, werden durch die angestrebte Reduzierung der Emissionen um 55 Prozent bis 2030 unter Druck geraten.

Kann das nicht auch eine Chance sein?

Trepte: Definitiv! Das Fit-for-55-Paket bietet Energieversorgern die Möglichkeit, durch eine frühzeitige Ausrichtung des Geschäftsmodells auf erneuerbare Energien Wachstum zu generieren und sich Marktanteile zu sichern.

Wenn die Energieversorger ihre bestehenden Geschäftsmodelle hinterfragen und neu denken müssen, haben sie die Chance, sich auf langfristige Trends und Anforderungen des Marktes auszurichten. Im kommenden Jahrzehnt werden traditionelle Barrieren zwischen verschiedenen Energiesektoren wie Oil & Gas, Power Utilities und Chemicals verschwinden und integrierte Energiesysteme entstehen.

Was heißt das konkret für Energieversorger? 

Trepte: Für alle Unternehmen gilt nun: Sie müssen schnell Entscheidungen treffen, um erneuerbare Energie im benötigten Rahmen zur Verfügung zu stellen. Denn eine wichtige Aufgabe der Energieversorgungsunternehmen ist es, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten.

Worauf kommt es dabei an?

Trepte: Um zur Erreichung der Klimaziele beizutragen, müssen Unternehmen nun neue Geschäftsfelder erschließen und massive Investitionen in erneuerbare Energien tätigen.

Die künftige Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen hängt entscheidend davon ab, ob sie in der Lage sind, vorausschauend zu denken und ihre Geschäftsmodelle im Lichte der sich abzeichnenden neuen Energiesysteme anzupassen.

Schwerpunkt: Industrielle Produktion

Dr. Klaus-Peter Gushurst, Sie leiten bei PwC das deutsche Netzwerk für die industrielle Produktion. Wie bewerten Sie die Auswirkungen des „Fit for 55“-Pakets für die produzierende Industrie?

Klaus-Peter Gushurst: Mit ihrer hohen Ressourcenintensität und ihren globalen Wertschöpfungsketten hat die industrielle Produktion eine besondere Verantwortung für den Klimaschutz – aber auch besonders große Hebel, um die Zukunft der Produktion nachhaltiger und ökologischer zu gestalten. Durch den starken Energieverbrauch der schweren Industrien und der immer kleiner werdenden Zahl der Emissionsrechte wird der ETS-Preis in die Höhe katapultiert und unsere Abhängigkeit von erneuerbaren Energien noch größer.

Daher sollte die Priorität darin bestehen, kohlenstoffarme Technologien in der Industrie so schnell wie möglich zu verbreiten, einzusetzen und dabei international wettbewerbsfähig zu bleiben.

Welchen Beitrag kann der industrielle Sektor dabei konkret leisten?

Gushurst: Er kann durch seine Innovationskraft dazu beitragen, mit nachhaltig produzierten Industriegütern und Technologien den deutschen Export zu stärken. Neben den benötigten Fördermaßnahmen für Innovationen und Technologien, zum Beispiel grüner Stahl, ergeben sich zahlreiche Gestaltungsräume für produzierende Unternehmen, um nachhaltige Lösungen entlang ihrer Wertschöpfungskette aktiv voranzutreiben.

Wie kann der Wandel zu einer kohlenstofffreien Industrie gelingen?

Gushurst: Zur Dekarbonisierung ihres Strom-, Wärme- und Kälteverbrauchs sollten Produzenten ihren Fokus auf Effizienzsteigerungen, Industriesymbiose, Elektrifizierung und grüne Gase legen. Nachhaltige Lieferketten und das Prinzip der Kreislaufwirtschaft werden eine große Rolle dabei spielen, um nicht nur den ökologischen Fußabdruck dieser Unternehmen zu reduzieren, sondern gleichzeitig Kosten zu sparen.

Es ist bereits heute absehbar, dass die Erzeugungskapazitäten von erneuerbarer Energie im Jahr 2030 nicht ausreichen werden, um den Verbrauch der produzierenden Industrie in Deutschland zu decken. Wie können Produzenten die grüne Energieversorgung ihrer Produktionsstätten sicherstellen?

Gushurst: Um den Strombedarf aus erneuerbaren Energiequellen zu decken, hat die industrielle Produktion eine Bandbreite an Optionen.

Power Purchase Agreements (PPAs) gelten zunehmend als bewährte Methode zur langfristigen Strombeschaffung.

Diese unterliegen jedoch wetterbedingten Angebotsschwankungen, die entweder auf Portfolioebene gesteuert oder durch eine vertraglich vereinbarte Grundlastversorgung abgesichert werden können.

Welche Alternativen gibt es?

Gushurst: Die größte Unabhängigkeit bei der Energiebeschaffung bieten Brown- und Greenfield-Investitionen, die jedoch infrastrukturelles Know-how, Projektentwicklungskapazitäten und entsprechende Ressourcen benötigen.

Industriegrößen wie BASF gehen bereits diesen Weg: Der Konzern erwirbt 49,5 Prozent des Windparks Hollandse Kust Zuid (HKZ) von Vattenfall und verfolgt damit das Ziel, sich langfristig die Versorgung des nahegelegenen Produktionsstandorts mit Offshore-Windenergie zu sichern.

Schwerpunkt: Chemieindustrie

Herr Dr. Fitzner, Sie leiten bei PwC das globale Netzwerk für die Chemieindustrie. Welche Auswirkungen von „Fit for 55“ beobachten Sie in der Chemiebranche?

Volker Fitzner: Die historisch enge Zusammenarbeit mit der Öl- und Gasbranche in der Petrochemie wird nun aktiv auf den Energie- und Versorgungssektor ausgeweitet. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem zuverlässigen Zugang zu erneuerbaren Energien in großen Mengen und zu vertretbaren Preisen.

Der Strombedarf der chemischen Industrie wird sich verdreifachen oder vervierfachen, wenn die chemische Produktion klimaneutral werden soll.

Wertschöpfung unter Berücksichtigung ökologischer, wirtschaftlicher und sozialer Auswirkungen wird zum übergreifenden Managementprinzip für Unternehmen, Lieferanten und Kunden in der Chemieindustrie.

Wie kann vor diesem Hintergrund nachhaltiges Wachstum gelingen?

Fitzner: Wichtig ist in jedem Fall ein intelligenter Ressourcen-Einsatz. Damit diese ökologische Transformation wettbewerbsfähig und mit hoher Geschwindigkeit klappt, braucht es zusätzlich staatliche Rahmenbedingungen, die einen schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien und der zugehörigen Transport-Infrastruktur nicht nur ermöglichen, sondern aktiv befördern. Auf dieser Basis werden neue Geschäftsmodelle entstehen.

Wie müssen Chemieunternehmen in Anbetracht dessen handeln?

Fitzner: Um in der sich wandelnden Wettbewerbslandschaft erfolgreich zu bestehen, sollten Chemieunternehmen eine klare, innovationsgetriebene ESG-Strategie verfolgen.

Innovationen reichen dabei von Produkt- und Service-Innovationen bis hin zur Entstehung neuer Geschäftsmodelle, die ein nachhaltiges Wachstum ermöglichen.

Chemiefirmen haben hier die große Chance, sich zu Vorzeigebeispielen der Kreislaufwirtschaft zu entwickeln.

Können Sie dafür Beispiele nennen?

Fitzner: Führende deutsche, aber auch ausländische Chemieunternehmen gehen strukturiert und fokussiert in diese Richtung. Dies geschieht beispielsweise im Bereich der Batterie-Materialien. Der Erfolg wird dabei auch davon abhängen, ob die Kollaboration mit den in dieser neuen Wertschöpfungskette vor- und nachgelagerten externen Partnern effizient funktioniert.

Was sind dabei die Knackpunkte?

Fitzner: Die erheblichen Veränderungen beim Ressourceneinsatz ebenso wie downstream bei der Ausrichtung auf die sich ebenfalls rasant verändernden Anforderungen seitens der Kundenindustrien erfordern eine deutlich ausgefeiltere Szenario-Planung, die auch disruptive Entwicklungen berücksichtigt. Auch die Entscheidungsprozesse und Geschäftsabläufe im Unternehmen müssen in diesem Kontext neu ausgerichtet werden.

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