Von Dr. Isabel Ruhmer und Cheyenne Herr. Angesichts der fortschreitenden Globalisierung, der seit der COVID-19-Pandemie bestehenden hohen Akzeptanz von virtuellen Teams und der dynamischen Entwicklungen der Weltwirtschaft gewinnt die geografische Verlagerung von Entscheidungsträgern innerhalb einer Unternehmensgruppe zunehmend an Bedeutung. Solche Verlagerungen basieren in der Praxis häufig auf strategischen Überlegungen, wie z. B. der Steigerung der Kundennähe in bedeutenden geografischen Märkten oder der Optimierung von Wertschöpfungsketten. In manchen Fällen ist man aufgrund des Fachkräftemangels eventuell auch darauf angewiesen, den Standortwünschen der Entscheidungsträger selbst möglichst nachzukommen.
Die Verlagerung von Entscheidungsträgern kann jedoch zu komplexen steuerlichen Fragestellungen, zum Beispiel im Bereich Lohnsteuer, Sozialversicherung, Betriebsstättenbegründung sowie auch im Bereich der Verrechnungspreise führen.
Dieser Artikel beleuchtet die wesentlichen Herausforderungen und Fragestellungen, die sich aus der geografischen Verlagerung von Entscheidungsträgern für die Verrechnungspreisgestaltung ergeben und zeigt mögliche Lösungsansätze auf.
Die OECD-Verrechnungspreisleitlinien 2022 beinhalten keine genauen Regelungen zur Beurteilung einer geografischen Verlagerung von Entscheidungsträgern. Bezugnehmend auf die Development, Enhancement, Maintenance, Protection und Exploitation (DEMPE)-Funktionen stellt die OECD in Tz. 6.56 ihrer Verrechnungspreisleitlinien 2022 jedoch fest, dass bestimmten Funktionen bei der Bestimmung einer fremdüblichen Vergütung für die funktionalen Beiträge verschiedener Gesellschaften einer internationalen Unternehmensgruppe eine besondere Bedeutung zukommt. Bei der fremdüblichen Vergütung für diese Funktionen kann es sich nach Ansicht der OECD je nach Sachverhalt um einen entsprechenden Anteil an dem „durch die Verwertung des immateriellen Werts erzielten Gesamtbetrags“ handeln (Tz. 6.54 der OECD-Verrechnungspreisleitlinien 2022). Zwar beziehen sich diese Regelung der OECD nicht explizit auf die geografische Verlagerung von Entscheidungsträgern, sie indizieren jedoch, dass innerhalb eines Konzerns bestimmte Funktionen vorliegen, denen ein Residualgewinn zuzuordnen ist. Übt der im Zuge der Verlagerung zu betrachtende Entscheidungsträger eine derartige Funktion aus, kann dies zu weitreichenden Verrechnungspreisimplikationen führen.
Eine genauere Betrachtung der Konsequenzen einer Verlagerung ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn der zu betrachtende Entscheidungsträger über wesentliche Entscheidungskompetenzen in Bezug auf signifikante Risiken oder die DEMPE-Funktionen verfügt. Ist dies der Fall, kann die Verlagerung des Entscheidungsträgers zu einer Änderung der bestehenden Zuordnung der Risiken und immateriellen Wirtschaftsgüter führen. Dies hätte zur Folge, dass bestehende Verrechnungspreissysteme, die üblicherweise auf einer Funktions- und Risikoanalyse basieren, nicht weiter fremdüblich sein können. Unter diesen Umständen wäre der tatsächliche Geschäftsvorfall anhand der wirtschaftlich relevanten Merkmale und Vergleichbarkeitsfaktoren erneut sachgerecht abzugrenzen und die konzerninterne Preissetzung der Transaktion auf Grundlage der neuen Vertragsbedingungen anzupassen. Eine Neuordnung der DEMPE-Funktionen kann dabei zu weitreichenden Folgen führen. So betonen auch die Verwaltungsgrundsätze Verrechnungspreise 2024 in Rn. 3.53, dass die Zuordnung von Erträgen aus immateriellen Werten den übernommenen Funktionen und Risiken und deren Kontrolle und nicht allein dem zivilrechtlichen Eigentum folgen muss. Neben der Verlagerung von Gewinnpotenzialen können sich in diesen Fällen weitere bilaterale Konsequenzen wie beispielsweise das Vorliegen einer Funktionsverlagerung ergeben.
Verfügt der zu betrachtende Entscheidungsträger hingegen nicht über wesentliche Entscheidungskompetenzen in Bezug auf signifikante Risiken oder die DEMPE-Funktionen oder führt die Verlagerung nicht zu einer Änderung der bestehenden Zuordnung der Risiken und immateriellen Wirtschaftsgüter, stellt sich weiterhin die Frage der konzerninternen Preisgestaltung in Bezug auf die von dem Entscheidungsträger erbrachte Funktion, sofern diese grenzüberschreitend an eine andere Konzerngesellschaft erbracht wird. In einigen Fällen wird die erbrachte Leistung als Dienstleistung zu klassifizieren sein, so dass die Kostenaufschlagsmethode als angemessene Methode herangezogen werden kann.
Eine genaue Betrachtung ist jedoch notwendig, wenn die Funktion für sich genommen eine nachhaltige Quelle für Wettbewerbsvorteile darstellt. Derartige Funktionen kennzeichnen sich beispielsweise dadurch, dass sie einen integralen Bestandteil der Organisation oder des Konzerns darstellen, typischerweise stark mit der Risikokontrollfunktion verbunden sind und oft in Verbindung mit anderen Vermögenswerten erheblich zum Wettbewerbsvorteil beitragen.
Liegt eine solche Funktion vor, ist außerdem zu prüfen, ob in der Region, in welche der Entscheidungsträger verlagert wird, bereits eine Gruppe von Mitarbeitern existiert, die eine ähnliche Funktion ausüben, so dass durch die Verlagerung eine kritische Masse gebildet werden kann, die zu einer Verschiebung z. B. von Entrepreneursfunktionen führt. Zur allgemeinen Messung der Konzentration werden häufig statistische Maße wie der Herfindahl-Hirschman-Index herangezogen. Stellt die Funktion eine nachhaltige Quelle für Wettbewerbsvorteile dar und entsteht durch die Verlagerung eine kritische Masse an Entscheidungsträgern in einer bestimmten Gesellschaft bzw. einem bestimmten Land, muss die Preissetzung unter Berücksichtigung der erzielten Ergebnisse beispielsweise im Rahmen eines Provisionsmodells oder der Gewinnaufteilungsmethode erfolgen.
Die geografische Verlagerung von Entscheidungsträgern innerhalb eines Konzerns kann weitreichende Auswirkungen auf bestehende Verrechnungspreissysteme haben. Insbesondere bei strategisch bedeutenden Funktionen ist eine differenzierte Analyse und Dokumentation der Auswirkungen auf die bisherigen Funktions- und Risikoprofile der betroffenen Gesellschaften notwendig. Neben den rechtlichen, regulatorischen und strategischen Rahmenbedingungen ist es Unternehmen demnach zu empfehlen, bereits in der Planungsphase die Implikationen auf die bestehenden Verrechnungspreissysteme zu bewerten und das Ergebnis dieser Analyse nachvollziehbar zu dokumentieren, um unerwünschten Effekten auf die Gewinnverteilung proaktiv entgegenzuwirken und auf eventuelle Rückfragen im Rahmen der nächsten Betriebsprüfung vorbereitet zu sein.
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Newsletter Transfer Pricing Perspectives DACH – Ausgabe 65