29 März, 2023
Im Sommer 2022 ist Marc Tedder mit seiner Familie von Mexiko-Stadt nach Beijing gezogen. Wie sie dort empfangen wurden und das Land erlebten, berichtete uns der PwC-Partner in Vom Aufbrechen und Ankommen.
In seinem aktuellen Beitrag skizziert Marc, welche Fragen die wirtschaftliche Entwicklung des chinesischen Marktes im laufenden Jahr bestimmen werden.
China ist am 4. Dezember 2022 mit einer tödlichen Pandemie zu Bett gegangen und am nächsten Morgen mit einer Grippe aufgewacht. Wie weitreichend und grundsätzlich sich dieser Wandel vollzog, lässt sich rückblickend am chinesischen Alltag ermessen.
Gemeinsam mit meiner Familie bin ich im vergangenen August nach Beijing gezogen. Von dort leite ich die PwC German Business Group in China. Unsere ersten Monate waren geprägt von regelmäßigen COVID-19-Tests und diversen Apps zum Nachweis des Gesundheitsstatus. Wer innerhalb eines Zeitraums von 72 Stunden keinen negativen Test nachweisen konnte, war vom öffentlichen Leben ausgeschlossen: kein Zutritt zu öffentlichen Gebäuden, Büros, Schulen und Parks. Mehr noch: Wer positiv getestet wurde, dem winkte die Zwangseinweisung ins Krankenhaus. Reisen zwischen den chinesischen Regionen, selbst zwischen Beijing und Shanghai waren riskant, weil man damit rechnen musste, unterwegs festgesetzt zu werden. Ende November erfolgte dann die vollständige Schließung aller öffentlichen Gebäude inklusive der Schulen – alles mit Hinweis auf das gefährliche Virus.
Nun also eine neue Welt … und das über Nacht: Seit Anfang Dezember werden keine verpflichtenden Coronatests mehr durchgeführt, die Zugangsbeschränkungen im öffentlichen Raum wurden abgeschafft. Erkrankte kurieren sich in den eigenen vier Wänden aus und innerhalb Chinas oder ins Ausland zu reisen ist uneingeschränkt möglich. Mitte Februar informierte das Schulamt, das Tragen von Masken im Unterricht sei nicht weiter erforderlich. COVID ist Geschichte in China. Die Agilität und Geschwindigkeit, mit der sich die chinesische Öffentlichkeit auf diese neue Realität einstellt, ist atemberaubend: China Speed.
Die Rückkehr zur Normalität schürt die berechtigte Hoffnung auf eine kraftvolle wirtschaftliche Erholung im Jahr 2023 und darüber hinaus. In den Umfragen der Handelskammern 2022 identifizierten die in China tätigen europäischen Unternehmen die pandemiebedingten Einschränkungen als das zentrale Hemmnis für die eigene wirtschaftliche Entwicklung. Und tatsächlich erwarten die Experten im laufenden Jahr ein Wachstum der chinesischen Wirtschaft um rund 5 und eine Inflationsrate von etwa 2,3 Prozent. Die Prognosen sind allerdings geprägt von einem hohen Maß an Unsicherheit, wie sich verschiedene strukturelle und zyklische Risiken auswirken. Zu ihnen zählen vor allem Risiken in Zusammenhang mit dem chinesischen Immobilienmarkt und der Entwicklung der Produktivität sowie die demografischen Herausforderungen Chinas infolge der Ein-Kind-Politik. Hinzu kommen geopolitische Risiken in Bezug auf Taiwan und die Folgen des Handelsstreits mit den USA. Zyklische Risiken bestehen hinsichtlich der Entwicklung des Binnenkonsums und der Auslandsnachfrage sowie deren Auswirkungen auf die Fiskalpolitik. Es sollte also niemanden überraschen, wenn wir im Lauf des Jahres beträchtliche Abweichungen von den beschriebenen Erwartungen beobachten.
Darüber hinaus ist spätestens seit dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas im vergangenen Oktober klar: Wir erleben einen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik Chinas. Während es für einen ausländischen Investor in der Vergangenheit vollkommen genügte nachzuweisen, dass sein Engagement aus chinesischer Sicht wirtschaftlich gewinnbringend ist, muss er sich heute darüber hinaus an politischen Zielen und Werten messen lassen. So werden Geschäftsmodelle, die politische Vorgaben bedienen, im Fokus stehen und dürfen Förderung erwarten, während andere Engagements an Attraktivität verlieren. Mit welcher Geschwindigkeit sich die Ideologisierung der Wirtschaftspolitik fortsetzt, war nicht zuletzt auf dem Nationalen Volkskongress und der zeitgleich stattfindenden Konsultativkonferenz im März zu beobachten. Auch diese Entwicklung erschwert eine zuverlässige Beurteilung der wirtschaftlichen Erholung Chinas im Jahr 2023 und darüber hinaus.
Was bedeutet das für die Beurteilung des „neuen“ chinesischen Marktes? China bleibt der Schlüsselmarkt für die meisten international aufgestellten Unternehmen: als Absatzmarkt mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern und einer nach wie vor rasant wachsenden Mittelschicht, als Produktionscluster mit hervorragender Infrastruktur, als Inkubator für Innovationen mit seinen vielen Talenten und einer Regulatorik, die Forschung und Entwicklung begünstigt. Ein breites Abwenden vom chinesischen Markt ist weder zu beobachten noch zu erwarten. Damit stellt sich die Frage, wie es gelingen kann, am Potenzial des chinesischen Marktes zu partizipieren und gleichzeitig die damit verbundenen Risiken zu begrenzen. Ein schlichtes „Weiter so!“ wird nicht genügen. Vielmehr wird es darauf ankommen, den neuen chinesischen Markt aus erster Hand zu verstehen und das lokale Geschäftsmodell sowie die Risikosteuerung auf dieser Basis dynamisch auf künftigen Wandel auszurichten: im besten Fall mit China Speed!
Marc Tedder ist Wirtschaftsprüfer und Partner bei PwC Deutschland. Seit August 2022 leitet er die PwC German Business Group in China. Vor seiner Entsendung nach Beijing hat er drei Jahre lang die PwC German Business Group in Mexiko geleitet. Marc Tedder hat insgesamt mehr als 15 Jahre Erfahrung in der Prüfung und Beratung international tätiger Unternehmen. Er ist ein gefragter Ansprechpartner für alle Herausforderungen im Zusammenhang mit Investitionen deutscher Unternehmen in China und Mexiko.
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