Ein entspannter Morgen. Erst Intervallläufe im Regen, dann Dinkel-Croissants und ein Hafer-Cappuccino. Sie atmet durch. Das dritte Staats-Examen als Ärztin hat Selin Oruz mit „sehr gut“ abgelegt. Der Stress lässt nach. Das ist eine ungewohnte Situation, denn Selin wurde früh als Ausnahmetalent ge- und behandelt. Die Düsseldorferin spielte in der Landesauswahl, in allen U-Nationalmannschaften, ist Leistungsträgerin bei den Damen. Nebenbei machte sie ihr Abitur, Note: 1,1. Selin sagt: „Es gab Zuhause einen klaren Ablauf. Ich habe nach den Hausaufgaben Geige geübt. Bevor ich rausgegangen bin, habe ich meine Pflicht gemacht. Bis heute lebe ich meinen Alltag auch diszipliniert und strukturiert.“ Angetrieben hat sie eine Mischung aus Ehrgeiz und Pflichtbewusstsein: „Das habe ich von meinen Eltern übernommen.“ Beide sind Ärzte.
Unterforderung mag sie nicht. Geleitet hat sie stete Planung – aber ohne Verzicht. Der entscheidende Moment, als sie merkte, dass sich alles auszahlt, war die Teilnahme an den Olympischen Spielen 2016 – als 19-Jährige. Eine große Belohnung.
„All das hilft nicht, wenn man nicht intrinsisch motiviert ist. Man muss dahinterstehen. Ich habe mir selbst immer wieder die Rückmeldung geben müssen, weiterzumachen. Bestandene Klausuren waren gute Zeichen. Mir ist das alles nicht zugeflogen. Aber die Rückmeldung vom Leben war: wie du es machst, ist es gut.“
Wie schafft man das, sich nie hängen zu lassen? Beim Training um sechs Uhr morgens half der Gedanke an die Kolleg:innen, die auf sie warteten. „Es war gar keine Wahl, liegen zu blieben.“ Beim Üben auf Lehrgängen schaute sie vor dem Einschlafen noch mal in die Fachbücher, statt einen Roman zu lesen. „Ich ziehe das alles durch, habe sicher mehr gemacht als andere. Aber ich übertreibe nicht. Mehr ist nicht mehr.“ Dabei hilft ihr Yoga, denn sie braucht eine Balance: „Ich finde da ein Mittel, um im Stress zur Ruhe zu kommen.“
Das „Hamsterrad“ der immer wiederkehrenden Tätigkeiten kennt sie. „Aber für mich hat sich das nicht rastlos angefühlt. Ich war drin, konnte aber immer Dinge genießen, konnte sagen, ich freue mich auf den Urlaub, ich breche da aus. Das Hamsterrad hat seine positiven Seiten. Es gab mir Sicherheit.“ Ihr Benzin war Erfolg: „Mein Einsatz hat sich in schöne Momente verwandelt.“
Nicht jede:r ist so intrinsisch motiviert. Damit konfrontiert, dass ihr Glas immer halbvoll sei, zögert Selin Oruz. Ja, sie habe das, was man „Positive Mindset“ nennt. Sie findet Erfüllung im Leben, vereint Sport und Beruf – und hat durch ihren 34-Jährigen Bruder, der geistig behindert ist, das Leben mehr zu schätzen gelernt. Sie sagt: „Die Mentalität des halbvollen Glases hilft bei der Bewältigung eines stressigen Alltags. Aber diesem Credo zu folgen, ist leichter gesagt als getan. Vielleicht sind es manchmal Schicksalsschläge, die ein positives Mindset ermöglichen. Wenn man so etwas annimmt, ist es möglich, auch nach einer schlechteren Phase das halbvolle Glas zu sehen.“ Geleitet hat Selin Oruz ihr Belohnungssystem für jede Lebenslage: Wenn sie investierte, in Schule, Studium, Hockey, auch im Privaten, bekam sie etwas zurück. Gute Noten, Medaillen. Freund:innen fürs Leben.